Vortrag Sean Prieske (Humboldt-Universität zu Berlin, Germany) am 25. November 2020, 18.00 Uhr, Online-Veranstaltung
“Viele verschiedene Bälle in einem Koffer”: Musikalische Selbstverortungen im Kontext von Flucht
Musik stellt als mobile Kulturtechnik etablierte Narrative kultureller Räume und ihrer Grenzen in Frage. Dies gilt umso mehr im Fluchtkontext, der verbunden ist mit Krisensituationen im Heimatland, dem meist beschwerlichen Weg in ein neues Land und starken Machtgefällen im Ankunftsland. Der Vortrag fragt, ob und ggf. wie sich Musiken in solchen Zusammenhängen mittels lokaler Zuschreibungskategorien fassen lassen. Wie begreifen geflüchtete Menschen Musik und Kultur im Zusammenhang mit Flucht und Vertreibung? Sind Grenzen und ihre Überschreitungen hörbar?
Seit 2015 befasse ich mich mit Musik in aktuellen Fluchtkontexten und stelle dabei besonders eines immer wieder fest: das Forschungsfeld, die beteiligten Akteure und die musikalischen Phänomene, die ich beforsche, sind äußerst divers. Treffend beschreibt mein Interviewpartner Ismail sein Verhältnis zu Musik mit folgendem Bild: „Musik ist wie viele verschiedene Bälle in einem Koffer.“ Mit welchen musikalischen Bällen im Koffer also kommen Geflüchtete in Berlin an und welche Formen kultureller Selbstverortung lassen sich dort mittels Musik beschreiben?
Im Rahmen meiner Promotionsforschung in Berlin begleitete ich geflüchtete Menschen über mehrere Jahre. Von iranischem Rock über eritreische Protestlieder bis zu türkisch-, deutsch- und englischsprachiger Popmusik spiegelt die Musik, der ich begegnete, die Vielfalt (popular-)musikalischer Kulturen wider. Diese musikalischen Praxen sind persönlich und individuell, künden aber gleichzeitig vom komplexen Verhältnis zwischen eigener Fluchterfahrung und dem dadurch entstandenen biografischen Bruch. Innerhalb dieser Wechselwirkung werden Musik und das Reden über Musik zu Ansatzpunkten, anhand derer kulturelle Migrationsprozesse wissenschaftlich verstanden werden können.
Sean Prieske ist Promotionsstudent am Lehrstuhl für transkulturelle Musikwissenschaft und historische Anthropologie der Musik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Neben Forschungs- und Lehrtätigkeiten arbeitet er freiberuflich als Musiker und Musikpädagoge in Berlin und betreibt mit Daniel Siebert den musikwissenschaftlichen Podcast „Musikgespräch“. Auszeichnungen: Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung, SEMPRE Conference Award, Maria Hanáček-Preis (IASPM D-A-CH). Aktuelle Veröffentlichungen: „Der Ausnahmezustand als Regel: Musikforschung im Fluchtalltag“ (Die Musikforschung, 2019) und „Musikprojekte mit Geflüchteten“ (Diskussion Musikpädagogik, 2018).