Vol. 5 (1978) Franz Kerschbaumer: Miles Davis. Stilkritische Untersuchungen zur musikalischen Entwicklung seines Personalstils

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Franz Kerschbaumer

Miles Davis

Stilkritische Untersuchungen zur musikalischen Entwicklung seines Personalstils

Miles Davis steht, sowohl seinen Personalstil als auch den Stil seiner Ensembles betreffend, seit dem Jahre 1947 bis zur Gegenwart an vorderster Stelle der Jazzentwicklung, die er mit dem Cool Jazz, teilweise mit dem Hard Bop und seit der Modalen Spielweise selbst vorangetrieben, im Bebop und in der Mainstream-Epoche mitvollzogen hat. Seine ersten beiden Jahre in New York (1945/46) zeigen einen lernenden Davis, dessen Improvisationsstil von den bedeutendsten modernen Jazzmusikern dieser Zeit, vom Bebop, beeinflußt ist und der Mitte 1947 mit dem Cool-Jazz erstmals seinen persönlichen musikalischen Stil und Ausdruck entwickelt.

In diese Stilepoche fällt das für die gesamte Jazzgeschichte bedeutende Auftreten des Miles Davis Capitol Orchestra, dessen kompositorischen Erneuerungen von drei Mitgliedern des Ensembles eingeführt wurden. Nach einer Wende zu einem einfachen, melodiösen Improvisationsstil in den frühen fünfziger Jahren, der den Trompetern des West Coast Jazz zum Vorbild wurde, entwickelt Davis ab 1955 aus dem Hard Bop seinen zweiten persönlich stark ausgeprägten Improvisationsstil, der von den einander konträren vitalen Stilelementen des Hard Bop und des Cool Jazz geprägt ist. Dieser Stil entspricht ebenso wie die vorhergehenden Epochen tonal dem Bebop. Während die Rhythmik und die Phrasierungstechnik dieses Stils weiterhin beibehalten werden, werden ab 1958 an Stelle der ständigen Reinterpretationen der funktionsharmonischen Modelle Skalen als Improvisations- und Kompositionsgrundlagen gesetzt bzw. von Davis erstmals beide Prinzipien gleichzeitig verwendet. Jene sogenannte Modale Spielweise, die ausschließlich auf Skalen basiert, hat Davis als erster konsequent angewandt, nachdem vorher vereinzelt Stücke mit dieser Technik von anderen Musikern kreiert wurden. Beide Prinzipien bilden zusammen mit der Bluestonalität die tonale Basis bis in die siebziger Jahre.

Nach einer fortgeschrittenen Emanzipation der Dissonanz in den Davis-Ensembles in der Mitte der sechziger Jahre setzt in der Schallplattenproduktion im Jahre 1968 eine dreiklangsbezogene “konsonantere” Tonalität und eine Aufnahme rhythmischer Elemente aus der Pop-Musik ein. Beide Komponenten entwickeln sich in den siebziger Jahren unter Hinzunahme von elektrisch verstärkten Instrumenten, afrikanischen Perkussionsrhythmen, Free-Jazzelementen, Elementen aus der Musik der Dritten Welt und avantgardistischen Akkordflächen zu seinem spezifischen Ensemblestil, der bis dato ein Unikum darstellt. Im Jahre 1974 zeichnet sich im Rahmen des permanenten Akkulturationsvorganges eine Tendenz zur Miteinbeziehung eines breiteren, musikalischen Gattungsbereiches ab, was sich in der Nebeneinanderstellung der beschriebenen Musizierpraxis, einfachster Bluesformen, lateinamerikanischer Rhythmen und in traditionellen Big Band-Arrangements ausdrückt.