Jazz Analyses
POSTBOP
Inhalt/Contents:
Franz Kerschbaumer
Postbop – eine jazzhistorische Positionierung
Summary
The term „postbop“ was coined to describe a new style that emerged around 1964. Based on the musical developments of George Russell, Bill Evans, Paul Bley, John Coltrane, Eric Dophy, etc., postbop was established primarily by the Miles Davis Quintet (and the groups that sprang from it) between 1964 and 1969 and exhibits the following characteristics: In addition to the continuance and intensification of hardbop’s rhythmic and creative energy, a marked independence and freedom in the rhythm section’s time playing; a flexible conception of form; a general extension of tonality to the borders of free tonality, and increased influences drawn from musical impressionism and expressionism, in correlation with functional harmony; an increased use of harmonic and melodic fourth structures, non-diatonic chords, chromaticism and pentatonics; integration of harmonic and modal improvisational techniques; partially free improvisation and frequent alternation between “outgoing” and “ingoing” playing; and finally, an engaging musical openness and a high degree of virtuosity, both in the older and younger generations of post-bop musicians (Wayne Shorter, Gary Thomas, Danilo Pérez, John Scofield, Adam Rogers, Clarence Penn, etc.).
Bernd Hoffmann
Außenansichten: Zur Prozesshaftigkeit von „Improvisation“ im Pablo Held Trio
Summary
The familiar format of a concert followed by a discussion has been significantly extended and updated fo form the basis of this research. The musicians of the Pablo Held Trio – Pablo Held (piano), Robert Landfermann (bass) and Jonas Burgwinkel (drums) – gave first-hand accounts of their improvisatory methods and processes in a series of interviews. They were asked to look at a single specific performance in considerable depth.
The recordings of a concert made for radio in March 2011 was made available to them and served as the jumping-off point for their commentaries. They have given valuable insights through this research process into how the performance itself evolved in real-time into the musical materials they were using, their methods and behaviour as improvisers, and into the inner functioning of their group dynamic.
A specific area where these discussions produced clear conclusions was the relationship between compositional materials and motifs, and the musicians’ individual and collective processes as improvisers transforming these materials. These issues have also been discussed elsewhere (Hoffmann 1999).
This research takes the musicians’ own original commentaries and remarks, identifies a set of different topics. It also does close analysis of interview extracts dealing with specific passages of music from the concert. In these sections of the interviews, the musicians elucidate their improvisational processes in depth and in detail.
The musicians have commented on twenty specific passages in the music, and each of the players has explained how these points in the concert evolved from his own perspective. The musicians of the trio have drawn attention to four aspects of the group dynamic in their improvisational processes:
- Giving specific impulses to the evolution of the performance by the use of preagreed musical signs.
- Strengthening the flow of improvisation and maintaining energy in the performance.
- Introducing and transforming specific compositional materials and motifs.
- Analysing how unexpected elements are also introduced and how playfulness and disruption from a part of the live performance.
These comprehensive, reliable and first-hand insights into the inner life of a well-established trio are based on a total of eight hours of recorded interviews with the three musicians. Investigations which have been archived in a similar manner (see Norgard 2013) can be of help in portraying the processes and the structures of improvisation. These accounts of a specific live performance clarify, open up, and help to shape our understanding of musical collaboration.
Christa Bruckner-Haring
Aspects of Cuban Jazz Identity: Selected Son Performances by Marialy Pacheco and Harold López-Nussa
Zusammenfassung
Als ein zentraler Teil der aktuellen Kulturlandschaft in Kuba wird Jazz als Musikstil wahrgenommen, der eine hohe variative Breite an Entwicklungs- und Ausdrucksmöglichkeiten beinhaltet. Eine beträchtliche Anzahl an Musikerinnen und Musikern entscheidet sich für eine Kariere im Jazzbereich, um ihre individuelle Musiksprache zu kreieren – eine Sprache, die sich häufig durch eine Kombination von Elementen aus kubanischer Popularmusik und Jazz kennzeichnet. Das Ergebnis ist eine florierende Jazzszene mit einer starken musikalischen Identität, die auch die ökonomischen Schwierigkeiten in den 1990er Jahren, ausgelöst durch den Zerfall des wichtigsten Handelspartners Sowjetunion, erfolgreich überstanden hat: Jazz aus Kuba wird nicht nur im Inland äußerst geschätzt, sondern auch international höchst erfolgreich durch Musikerinnen und Musiker der aktuellen Jazzszene vertreten.
Als international anerkannte Protagonisten der jungen Jazzgeneration wurden für diesen Beitrag die Pianistin Marialy Pacheco und der Pianist Haróld López-Nussa ausgewählt: Im Kapitel zum musikalischen Werdegang der KünstlerInnen wird dargestellt, welche Faktoren zu ihrer Persönlickeitsentwicklung als Musikerin und Musiker beigetragen haben und welche Rolle kubanische Traditionen für ihre Musikkreation spielen. Als Quellen für diese Untersuchungen dienen hauptsächlich die mit der Musikerin und dem Musiker geführten Interviews und die in Kuba durchgeführten Recherchen zur Jazzszene. Die Analysen der Integration kubanischer Musiktradition in aktuellen kubanischen KJazz erfolg anhand zweier repräsentativer Beispiele des Genres Son, „El Manisero“ (Pacheco, 2014) und „Mi Son Cerra’o“ (López-Nussa, 2010).
Die Untersuchungsergebnisse zu Aspekten der musikalischen Identitätsbildung der ausgewählten KünstlerInnen geben wesentliche Einblicke in aktuelle kubanische Jazzentwicklungen und tragen dadurch zu einem vertieften Verständnis der kubanischen Jazzkultur bei.
Michael Kahr
Herbie Hancock, Chromatic Harmony, and Clare Fischer
Zusammenfassung
Der Pianist Herbie Hancock bezeichnet in Bezug auf die Entwicklung seiner eigenen harmonischen Ausdruckspalette den Komponisten, Arrangeur und Pianisten Clare Fischer als wichtigen Einfluss. Hancocks frühe Beschäftigung mit Fischers Arrangements für die Vokalgruppe The Hi-Lo’s kommt, nach eigenen Aussagen, besonders auf dem Album Speak Like a Child zum Ausdruck. Eine eingehende Analyse der Musik dieses Albums im Vergleich zu Fischers repräsentativem A-cappella-Arrangement der Komposition „Tenderly“ ergibt folgende gemeinsame Charakteristika:
- hohes Ausmaß an vertikalen Dissonanzen durch die Hinzunahme von kleinen Sekunden, großen Septimen und erniedrigten Nonen innerhalb der Akkordstrukturen
- konstante Akkordstrukturen im Abstand kleiner Terzenb, basierend auf dem Material einer verminderten Skala
- chromatisch verschobene Intervallstrukturen (Quarten, große bzw. kleine Sekunden)
- erwartete Auflösungen von Dissonanzen resultieren in der Erzeugung neuer Dissonanzen
- lange, chromatisch fallende Linien in den mittleren und unteren Stimmen
- ökonomische Stimmführung mit hoher chromatischer Auflösungstendenz
Trotz der überraschend hohen Dichte an Übereinstimmungen lassen sich jedoch nur bedingte Rückschlüsse auf die tatsächliche Einflussnahme zur Verwendung einzelner musikalischer Strukturen und Techniken ziehen. So kann beispielsweise nicht ausgeschlossen werden, dass Hancock von den Quarten-Strukturen in der Musik anderer bekannter Improvisatoren und Komponisten wie Bud Powell, Horace Silver, Duke Ellington, Claude Debussy und Maurice Ravel beeinflusst wurde. Dennoch repräsentiert diese Studie ein Fallbeispiel für überraschende Parallelen zwischen der Popularmusik der 1950er Jahre und dem modernen Jazz der 1960er Jahre und ergänzt bisherige Analysen von Fischers und Hancocks Musik.
Franz Krieger
Harmony in Jazz Blues: “Footprints” as Interpreted by Danilo Pérez, Chick Corea and Herbie Hancock, 1966-2002
Zusammenfassung
Die vorliegende harmonische Untersuchung beschäftigt sich mit der pianistischen Stilistik in fünf Interpretationen des Jazzblues “Footprints”, einer Komposition von Wayne Shorter aus dem Jahre 1966. Die Interpretationen stammen von Danilo Pérez (2002), Chick Corea (2001, 1970) und Herbie Hancock (1988, 1966) und zeigen darin eine erstaunlich große Übereinstimmung, dass primär die Originalharmoniken, d. h. die Harmonien der Komposition benützt werden. Die einzige Ausnahme ist Corea 1970, der in erster Linie mittels Rückungen gestaltet. Rückungen sind – nach den Originalharmonien – auch für Pérez 2001 und Hancock 1966 das wichtigste Reharmonisationsmittel. Je nach Aufnahme spielen noch weitere Gestaltungsweisen eine Rolle (Bitonalität, Ganztonabstand von den Originalharmonien, Progression in Schritten; Sekunden, Quarten, tonikales Moll), die quantitativ zumeist untergeordnet auftreten, qualitativ jedoch von teils prägnanter Bedeutung sind. Alles in allem sind die verwendeten Reharmonisationsmittel über die Jahrzehnte dieselben geblieben, und auch der Rahmen gestalterischer Freiheit, wie er sich in der 2. Hälfte der 1960er Jahre etabliert hat, wurde kaum mehr überschritten. Dies bestätigt einerseits die für den modernen Jazz wegweisende Bedeutung der Miles-Davis-Gruppen, andererseits unterstreicht dies die bis zur Gegenwart offensichtlich ausreichende Größe des damals etablierten musikalischen Freiraums.
Márton Szegedi
“All Strings Attached” (1986) – eine comparative Analyse anhand von “Autumn Leaves”
Summary
This paper investigates an uncommon concert, which took place in the Wiltern Theatre in Los Angeles in 1986 and was released under the title All Strings Attached both as LP and as concert movie featuring five renowned jazz guitarists of different stylistic background: Tal Farlow, John Abercrombie, Larry Carlton, Larry Coryell and John Scofield, accompanied by John Patitucci on the bass as well as Billy Hart on the drums.
After a short overview of the historical background, the reception as well as the performing musicians, a detailed examination of the jazz standard Autumn Leaves follows, as it offers the opportunity to a comparative analysis of the five guitarists. The analytical part of this investigation is based on detailed transcriptions made by the author.
Robert Wason
Bill Evans’s Entrée into Modal Jazz Composition (1962)
Zusammenfassung
Die wenigen aus der Periode vor “Kind of Blue” stammenden Kompositionen von Bill Evans sind auf den ersten unter seinem Namen veröffentlichten Schallplatten dokumentiert (New Jazz Conceptions, 1956, und Everbody Digs Bill Evans, 1958). Bei diesen Kompositionen handelt es sich entweder um Stücke, die er nach verschiedenen romantischen Vorbildern schon als Student an der University of Southeastern Lousiana in der 1940er Jahren begonnen hat („Waltz for Debby“, „Peace Piece“), oder es sind Postbop-Themen, die er vermutlich für diese zwei Schallplatten geschrieben hat und die besonders die Jazzrhythmik interessant und original behandeln („Five“, „Displacement“).
1962 komponierte Bill Evans drei Stücke mit einer großen Nähe zum Modal Jazz, die er seine ganze weitere Karriere hindurch häufig spielte: „RE: Person I Knew“, „Time Remembered“ und „34 Skidoo“. Alles in allem stellte 1962 einen Höhepunkt in Bill Evans‘ Kompositionstätigkeit dar; in diesem Jahr schrieb er 12 seiner insgesamt 57 Lieder. Ein wesentlicher Anlass dafür düfrte der Tod Scott LaFaros gewesen sein, der eine musikalische Neuorientierung von Evans (Konzentration auf Aufnahmetätigkeit; Suche nach einer neuen musikalischen Identität) nach sich zog. Auch dürfte es kein Zufall sein, dass diese Neuorientierung und die Hinwendung zum Modal Jazz fast gleichzeitig stattfanden: Dieser neue, wenn nebelhaft definierte Stil eröffnete neue kompositionstechnische Möglichkeiten, mit denen Evans schon bei Miles Davis als Begleiter in Berührung gekommen war und die er nun für seine eigene Musik benutzte.
Der vorliegende Artikel untersucht die Periode von „Kind of Blue“ bis zur Komposition dieser drei Lieder. Insbesondere beschreibt er die Entstehung und weitere Entwicklung dieser Kompositionstechniken während dieser Zeit, schlägt mögliche, von anderen Komponisten entlehnte Vorbilder der drei Lieder vor, und bietet Analysen aller drei an. Als Resümee der Untersuchung wird eine Einschätzung abgegeben, inwieweit der Modal Jazz Einfluss auf Evans‘ ganze Karriere hatte.
Klaus Frieler / Martin Pfleiderer / Jakob Abeßer / Wolf-Georg Zaddach
Chasing the Difference: Computer-aided Comparison of Improvisation in Postbop, Hardbop, and Bebop
Zusammenfassung
In dieser explorativen Studie wird mit statistischen Methoden eine vergleichende Analyse von Postbop- und Bebop/Hardbop-Soli durchgeführt. Grundlage dafür sind 50 digitalisierte einstimmige Solotranskriptionen aus der Weimarer Jazz-Datenbank (WJazzD), die im Rahmen des Jazzomat Research Project aufgebaut wird. Für 23 Bebop/Hardbop-Soli und 27 Postbop-Soli wurden mit Hilfe der neu entwickelten Analyse-Software MeloSpySuite jeweils 102 musikalische Merkmale bestimmt. Auf diese Weise wurden mehrere signifikante Unterschiede zwischen Bebop/Hardbop- und Postbop-Improvisationen ermittelt. Hauptunterschiede liegen in einem größeren Ambitus sowie in einer tendenziell höheren tonalen Komplexität bzw. gesteigerten Chromatizität der Postbop-Improvisationen. Die Studie zeigt, dass der Jazzforschung und insbesondere der vergleichenden stilanalytischen Untersuchung von Jazzimprovisationen durch statistische Methoden neue Perspektiven eröffnet werden können.