Jazzforschung / Jazz Research 44 (2012)

150 150 Internationale Gesellschaft für Jazzforschung

Jazz in Denmark
Jazz in the Netherlands
Jazzentwicklung in Österreich
Herbie Hancocks‘ Harmony
Stilistik von Marc Ribot
Clare Fischer and the Montuno
Inszenierung von Musical Shorts
Rethining Jazz History

Inhalt/Contents:

Anne Dvinge / Christa Bruckner-Haring / Caterina Kehl

Historical Overview of the Development of Jazz in Denmark

Zusammenfassung
Seit den 1930er Jahren nimmt der Jazz eine wesentliche Position in der Musiklandschaft Dänemarks ein. Im vorliegenden Überblick werden zentrale Merkmale und Entwicklungen des Jazz in Dänemark anhand von musikwissenschaftlicher Literatur, Interviewbefragungen von Protagonisten der Jazzszene sowie Internet-Recherchen zur aktuellen Jazzszene dargestellt.

Nach den ersten Kontakten mit jazzverwandter Musik und frühen Formen des Jazz in Dänemark um die Wende des 20. Jahrhundert bis zum Ende der 1920er Jahre werden in einem zweiten Abschnitt die frühe Jazzpädagogik und die Rolle des Jazz im Kulturradikalismus in den 1930er Jahren beleuchtet. Als „goldenes Zeitalter des Jazz“ werden die Jahre 1940-1945 bezeichnet, als Jazz währender der Besetzung Dänemarks durch die deutsche Wehrmacht eine enorme Popularitätssteigerung erlebte. Dem Einzug des Bebop und des Revival Jazz ab dem Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Ende der 1950er Jahre folgt die Ära des Kopenhagener Clubs „Jazzhus Montmartre“, die durch avantgardistische Entwicklungen und Kooperationen mit US-Musikern geprägt ist. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre werden staatliche Fördermaßnahmen für Jazz von großer Bedeutung, beispielsweise durch die Einrichtung von Jazz-Zentren, Jazz-Preisen und dem Copenhagen Jazz Festival. Nach der Darstellung wesentlicher Entwicklungen im dänischen Jazz seit den 1980er Jahren ist ein weiterer Abschnitt der „rytmisk music“ in der Musikausbildung und der Jazzforschung in Dänemark gewidmet. Das abschließende Kapitel behandelt die spezielle dänische Klangfarbe im Jazz, auch bezeichnet als „hygge-jazz“.

Loes Rusch

Jazz in the Netherlands, 1919-2012: Historical Outlines of the Development of a Social and Musical Praxis

Zusammenfassung
Der vorliegende Artikel gibt einen Überblick über die Entwicklung des Jazz in den Niederlanden, wobei er gleichermaßen musikalische und soziale Entwicklungen mit einbezieht, indem u. a. die Veränderungen in der musikalischen Organisation, der musikalischen Ausbildung, im Fundraising sowie in der Wahrnehmung und Darstellung des Jazz thematisiert werden. Darüber hinaus geht es in einem gesonderten Abschnitt um den Jazz im kolonialisierten Ostindien der Vorkriegszeit.

Der Jazz in den Niederlanden konnte sich zu einem großen Teil den anfänglichen Assoziationen mit Varieté-Acts, Tanz und generell der amerikanischen Unterhaltungsindustrie entziehen und entwickelte sich zu einer institutionalisierten Kunstform, die völlig in die niederländische Kultur integriert wurde. Die Diskussionen und Entwicklungen im niederländischen Jazz während den 1970er und ‘80er Jahren wurden jedoch von wachsenden Spannungen zwischen sogenannten „modernen Jazz-Musikern“ geprägt. Während die modernen Jazz-Musiker wie Frans Elsen, Ack van Rooyen und Ruud Jacobs eine eher konventionelle, amerikanische Auffassung von Jazz hatten, setzen die improvisierenden Musiker wie Misha Mengelberg, Willem Breuker und Han Bennink sich für die Erneuerung des musikalischen Lebens in den Niederlanden ein. Sie experimentierten mit kollektiver Improvisation, Stilmischungen, interdisziplinären Kooperationen und flexiblen Ensembles. Außerdem erhoben sie Anspruch auf staatliche Unterstützung für ihre Arbeit und initiierten unter anderem einen Berufsverband für improvisierende Musiker, die erste strukturelle Förderung für Jazz und das Bimhaus, welches der größte Veranstaltungsort für Jazz in den Niederlanden werden sollte.

Die jüngere 1980er Generation niederländischer Jazz-Musiker wurde größtenteils an Musikhochschulen ausgebildet und musiziert losgelöst von festen Gruppen oder Genres, wodurch man sie in verschiedenen interessanten Zusammenstellungen und Projekten erleben kann. Auf diese Weise sind die früheren Diskussionen verstummt, und die Musiker des in der Tradition wurzelnden modernen Jazz wie auch die improvisierenden Musiker sind in eklektischer Weise zusammengewachsen.

Christa Bruckner-Haring

Ein historischer Überblick der Jazzentwicklung in Österreich

Summary
Jazz has been an integral part of the Austrian music scene since the postwar era and has found wide acceptance in the Austrian cultural landscape over time. This paper presents an overview of the most important developments and personalities in Austrian jazz history. The sources for this information include musicological texts on jazz in Austria as well as interviews with observers and active members of the jazz scene; online research is also of particular relevance, especially concerning more recent history. The first section, “From the beginnings to the end of World War II”, deals mainly with the early development of jazz until the Nazi era. The second, “Postwar and the 1960s” traces the beginnings of an independent scene and important Austrian expatriate musicians as well as discussing Graz as a stimulating force and academic institutionalization. The section “The late 1960s to the generational change of the late 1970s” deals with the Vienna scene as well as the influence of the “Vienna Art Orchestra” and its leading soloists from that period. The final section, “Stylistic pluralism – the 1980s to the present” examines various trends and musicians from the 1980s and 1990s as well as introducing the first generation of the new millennium.

Tom Sykes

Virtual Scenes of Interaction? Jazz and Connectedness in the Digital Age

Zusammenfassung
Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit dem Konzept “virtueller Szenen” im Jazz, die auf den Online-Aktivitäten jenes Personenkreises basieren, der die ansonsten übliche Jazzszene bildet, und er geht von einem Forschungsansatz aus, der neben medientheoretischen und soziologischen Ansätzen auch miteinbezieht, was “virtuelle Ethnographie” genannt werden könnte. Einleitend wird die Entwicklung der theoretischen Debatte rund um Musikszenen erörtert, wobei es schwerpunktmäßig um Studien zur Popularmusik geht, und es wird hinterfragt, in welcher Weise sich Jazzszenen in dieses Szenario einfügen. Nachfolgend geht es um die Konzepte von Online Communities und virtuellen Musikszenen, wobei Begrifflichkeiten wie Identität und „connectedness“ miteinzubeziehen sind. Abrundend werden die Ergebnisse von Befragungen zur Diskussion gestellt, die bei zwei Jazzfestivals in Nordengland erhoben wurden.

Franz Krieger

Impressionist and Expressionist Harmony in Jazz, as Exemplified by Herbie Hancock

Zusammenfassung
Hinsichtlich impressionistischer bzw. Expressionistischer Klangwirkung sind Hancocks wichtigste harmonische Gestaltungsweisen der Gebrauch alterierter Optionstöne bei Klängen mit Durzterz, gefolgt von der Anwendung des Moll-major7-Akkords, bitonalen Schichtungen und Sekund-Reibeklängen. Rückungen und Sequenzen, vor allem im Halbtonabstand, sind auch noch von besonderer Bedeutung, gefolgt von den eher seltener verwendeten Slash-Akkorden und Quarten. Dort und dann kommen Harmonieprogressionen in gleichbleibenden Intervallschritten vor wie auch klangmalerische Gestaltung. Nur marginal verwendet werden lineare Melodik und Blockspielweise, lediglich singulär erschienen kontrapunktische und clusterartige Gestaltung. Im Wesentlichen benützt Hancock also etwas mehr als eine Handvoll von Spielmitteln, mit denen er seit Beginn seiner Karriere bis in die Gegenwart gestaltet.

Márton Szegedi

Die Stilistik von Marc Ribot am Beispiel der Masada-Projekte John Zorns

Summary
Based on transcriptions of selected Masada recordings made by the author, the polystylistic playing of American guitarist Marc Ribot will be examined. The analysis of the pieces will be organized according to instrumentation (solo, Bar-Kokhba Sextet, Electric Masada incl. The Dreamers, Ribot’s own trio) and will reveal in particular the targeted use of a few structures alien to the style: unorthodox guitar sound, unusual playing techniques, etc.

Brian DiBlassio

Clare Fischer’s Compositional Innovations within the Latin Jazz Montuno

Zusammenfassung
Im Latin Jazz dient der Montuno primäre der perkussiven und akkordischen Begleitung. Clare Fischer entwickelte den Montuno weiter, indem er kompositorische Elemente einbrachte, die in ihrer ausgeweiteten Melodik, Harmonik und Rhythmik Dissonanz evozieren. Der vorliegende Artikel analysiert Fischers diesbezügliche Techniken anhand ausgewählter Kompositionen, wobei das Hauptaugenmerk auf der synergetischen Implementation melodischer und harmonischer Gestaltungsmittel liegt.

Bernd Hoffmann

Ruß im Gesicht: Zur Inszenierung US-amerikanischer Musical Shorts

Summary
From 1926 musical shorts begin to appear commercially in the US as a support to talkies in the recently-built cinemas. Some of these shorts appear useful as a source for jazz research but have been rarely analysed, showing various forms of music and its presentation. With a yearly production volume of about 1000 titles (1926-1940) the musical shorts reflect the spirit of the time using respective performance and stage characteristics, and using serious as well as popular music.

In this paper, eight film formats will be looked at systematically, belonging to the most established types of movies. Referring to the musical repertoire of the syncopated music of the musical shorts they can be divided into a first period (1926-1932), and then a more jazz-oriented second period (1932-1940). It is remarkable that the blackface activities correlate with syncopated music (ragtime, cakewalk, coon songs). The showing of social life makes up a large part of the programme: illusory fictitious scenes are staged, such as cabins in front of cotton plantations, a jazz club in Harlem, etc. An analysis of the representative Paramount musical short After Seben (USA 1929) reveals both musical and visual characteristics of the first and the second period.

As a result of the analysis musical shorts can be considered as a significant source for the research on popular music in the USA as well as a basic documentation of the different jazz styles at the time. Due to little material funds a search for these musical shorts should be intensified.

Nicholas Gebhardt

When Jazz Was Foreign: Rethinking Jazz History

Zusammenfassung
Während des größten Teils des 20. Jahrhunderts war Jazz nicht zu trennen von Definitionen afroamerikanischer Identität, amerikanischer Kultur, karibischer Kultur und teils europäischer Kultur. Jazz diente hierbei als Metapher und Ausdrucksvehikel für rassenbedingte Unterschiede, jedoch auch als Mittel, diese zu überwinden. Der vorliegende Aufsatz thematisiert einige jener grundlegenden Prämissen, durch die die Betrachtung der Musiker und ihrer Musik auch deren kulturgeschichtliche Signifikanz innerhalb des atlantischen Raumes aufzeigt.

Der erste Teil der Untersuchung bringt einen Aufriss mehrerer rezenter Versuche, die „Geschichte des Jazz“ zu erzählen. Dabei wird auf Konzepte wie „Kreolisierung“, „Hybridisierung“, „Diaspora“ und „Transnationalismus“ Bezug genommen, um damit die Ursprünge dieser Musik wie auch deren aktuelle Identität zu klären. Im zweiten Teil werden Argumente für einen umfassenden Forschungsansatz erörtert, der die karibische Historie und die kreolische Kultur mit einbezieht (Atkins spricht in diesem Zusammenhang von einer globalen Geschichte des Jazz). Dazu werden etliche Beispiele jener Aufnahmen Jelly Roll Mortons erläutert, die 1938 für die Library of Congress entstanden und die eine Reihe von Hinweisen zu den Ursprüngen des Jazz enthalten. Das generelle Ziel des vorliegenden Aufsatzes besteht darin, den analytischen Rahmen zu hinterfragen, den wir üblicherweise anlegen, um jene Musiker zu erfassen und zu klassifizieren, die sich im 20. Jahrhundert von der Karibik und den beiden Amerikas herleiten.